Der Dieselskandal – und das Thermofenster bei Mercedes-PKWs

Der Bundesgerichtshof hatte sich aktuell mit vier Schadensersatzklagen gegen die Daimler AG im Zusammenhang mit dem sogenannten „Thermofenster“ – und in allen vier Fällen die klageabweisenden Entscheidungen der Vorinstanzen bestätigt. 

Die vier Autokäufer nahmen die beklagte Daimler AG als Fahrzeugherstellerin auf Schadensersatz wegen Verwendung einer angeblich unzulässigen Abschalteinrichtung für die Abgasreinigung in Anspruch:

  • Der Autokäufer im ersten Verfahren1 erwarb im Januar 2016 einen gebrauchten, von der Daimler AG hergestellten Pkw Mercedes-Benz C 250 CDI zum Preis von 16.900 €.
  • Der Autokäufer im zweiten Verfahren2 erwarb im Juli 2012 einen gebrauchten, von der Daimler AG hergestellten Pkw Mercedes-Benz GLK 250 CDI 4M BE zum Preis von 43.950 €.
  • Der Autokäufer im dritten Verfahren3 erwarb im November 2016 einen gebrauchten, von der Daimler AG hergestellten Pkw Mercedes-Benz GLK 220 CDI 4M BE zum Preis von 23.760 €.
  • Der Autokäufer im vierten Verfahren4 erwarb im August 2016 einen gebrauchten, von der Daimler AG hergestellten Pkw Mercedes-Benz B 180 zum Preis von 20.900 €.

Die vier Fahrzeuge sind jeweils mit einem Dieselmotor der Baureihe OM 651 ausgestattet und unterliegen keinem Rückruf durch das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA). Für den jeweiligen Fahrzeugtyp wurde die Typgenehmigung nach der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 mit der Schadstoffklasse Euro 5 erteilt. Die Abgasreinigung erfolgt über die Abgasrückführung, bei der ein Teil der Abgase zurück in das Ansaugsystem des Motors geführt wird und dort erneut an der Verbrennung teilnimmt. Bei kühleren Temperaturen wird die Abgasrückführung zurückgefahren („Thermofenster“), wobei zwischen den Parteien streitig ist, bei welchen Außen-/Ladelufttemperaturen dies der Fall ist.

Die Autokäufer machen jeweils geltend, die Daimler AG habe das Thermofenster in Form einer verbotenen Abschaltvorrichtung exakt auf die Prüfbedingungen im Neuen Europäischen Fahrzyklus (NEFZ) abgestimmt und so im Rahmen des Typgenehmigungsverfahrens unter Vorspiegelung der Einhaltung der gesetzlichen Grenzwerte die EG-Übereinstimmungsbescheinigung und die damit einhergehende Betriebserlaubnis erlangt. Mit ihren Klagen verlangen sie jeweils Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs die Erstattung des Kaufpreises unter Anrechnung einer Nutzungsentschädigung nebst Zinsen, die Feststellung, dass sich die Daimler AG im Annahmeverzug befindet, sowie die Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten.

In allen vier Verfahren hatten die Klagen in den Vorinstanzen vor dem Oberlandesgericht Koblenz5 keinen Erfolg. Mit ihren vom Oberlandesgericht Koblenz jeweils zugelassenen Revisionen haben die Autokäufer ihre Klageziele weiterverfolgt, hatten jetzt aber auch vor dem Bundesgerichtshof keinen Erfolg; der Bundesgerichtshof hat mit seinen vier jetzt verkündeten Urteilen die Revisionen der Autokäufer zurückgewiesen:

Das Oberlandesgericht Koblenz hat in allen vier Fällen einen Schadensersatzanspruch des jeweiligen Autokäufers aus § 826 BGB zu Recht verneint. Es hat zutreffend angenommen, das Verhalten der für die Daimler AG handelnden Personen sei nicht bereits deshalb als sittenwidrig zu qualifizieren, weil sie den in Rede stehenden Motortyp aufgrund einer grundlegenden unternehmerischen Entscheidung mit einer temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems (Thermofenster) ausgestattet und in den Verkehr gebracht haben.

Dabei konnte zugunsten der Autokäufer in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht unterstellt werden, dass eine derartige temperaturbeeinflusste Steuerung der Abgasrückführung als unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 zu qualifizieren ist. Denn der darin liegende – unterstellte – Gesetzesverstoß wäre für sich genommen nicht geeignet, den Einsatz dieser Steuerungssoftware durch die für die Daimler AG handelnden Personen als besonders verwerflich erscheinen zu lassen. Vielmehr würde die Annahme von Sittenwidrigkeit in diesen Fällen jedenfalls voraussetzen, dass diese Personen bei der Entwicklung und/oder Verwendung der temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems in dem Bewusstsein handelten, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf nahmen. Ein solches Vorstellungsbild der für die Daimler AG handelnden Personen hat das Oberlandesgericht Koblenz rechtsfehlerfrei verneint. Die hiergegen gerichteten Rügen der Revisionen blieben erfolglos.

Unabhängig davon, dass schon damit der objektive Tatbestand der Sittenwidrigkeit des Verhaltens der für die Daimler AG handelnden Personen nicht gegeben war, hat das Oberlandesgericht Koblenz jeweils in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise ein besonders verwerfliches Verhalten auch im Hinblick auf eine unsichere Rechtslage bei der Beurteilung der Zulässigkeit des Thermofensters ausgeschlossen. Bei einer Abschalteinrichtung, die – wie hier – im Grundsatz auf dem Prüfstand in gleicher Weise arbeitet wie im realen Fahrbetrieb und bei der die Frage der Zulässigkeit nicht eindeutig und unzweifelhaft beantwortet werden kann, kann bei Fehlen sonstiger Anhaltspunkte nicht ohne Weiteres unterstellt werden, dass die für die Daimler AG handelnden Personen in dem Bewusstsein handelten, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf nahmen. Die Würdigung des Oberlandesgerichts Koblenz, die Rechtslage hinsichtlich der Zulässigkeit eines Thermofensters sei zweifelhaft gewesen, war revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Eine möglicherweise nur fahrlässige Verkennung der Rechtslage genügt aber für die Feststellung der besonderen Verwerflichkeit des Verhaltens der Daimler AG nicht.

Ebenso fehlte es an dem erforderlichen Schädigungsvorsatz. Allein aus der – unterstellten – objektiven Unzulässigkeit der Abschalteinrichtung in Form des Thermofensters folgt kein Vorsatz hinsichtlich der Schädigung der Fahrzeugkäufer. Im Hinblick auf die unsichere Rechtslage – hinsichtlich des unstreitig in den Fahrzeugen der Autokäufer verbauten Thermofenster fehlt es bis heute an einer behördlichen Stilllegung oder einem Zwang zu Umrüstungsmaßnahmen – war nicht dargetan, dass sich den für die Daimler AG tätigen Personen die Gefahr einer Schädigung des Autokäufers hätte aufdrängen müssen.

Die von den Autokäufern geltend gemachten Ansprüche ergeben sich auch nicht aus einem anderen Rechtsgrund. Die Daimler AG haftet insbesondere nicht gemäß § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV oder den Normen der Verordnung (EG) Nr. 715/2007. Wie der Bundesgerichtshof bereits in seinen Urteilen vom 25. Mai 20206 und 30. Juli 20207 ausgeführt hat, liegt das Interesse, nicht zur Eingehung einer ungewollten Verbindlichkeit veranlasst zu werden, nicht im Aufgabenbereich dieser Bestimmungen. Die Revisionen gaben keinen Anlass, davon abzuweichen. Auch sonst sind im Streitfall keinerlei Anhaltspunkte ersichtlich, dass der Gesetz- und Verordnungsgeber mit den genannten Vorschriften einen Schutz der allgemeinen Handlungsfreiheit und speziell des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts der einzelnen Käufer bezweckte und an die – auch fahrlässige – Erteilung einer inhaltlich unrichtigen Übereinstimmungsbescheinigung einen gegen den Hersteller gerichteten Anspruch auf Rückabwicklung eines mit einem Dritten geschlossenen Kaufvertrags knüpfen wollte.

Bundesgerichtshof, Urteile vom 16. September 2021 – VII ZR 190/20 – 286/20 – 321/20 und 322/204

  1. BGH – VII ZR 190/20[]
  2. BGH – VII ZR 286/20[]
  3. BGH – VII ZR 321/20[]
  4. BGH – VII ZR 322/20[]
  5. OLG Koblenz, Urteile vom 12.10.2020 – 12 U 1525/19; vom 16.11.2020 – 12 U 2252/19; vom 23.11.2020 – 12 U 2250/19; und vom 23.11.2020 – 12 U 2054/19[]
  6. BGH, Urteil vom 25.05.2020 – VI ZR 252/19[]
  7. BGH, Urteil vom 30.07.2020 – VI ZR 5/20[]